Ohne Titel (…)

Ohne Titel..

Pigmentprint je / each
120cm x158cm Edition 3 x 1 A.P.
30cm x 40cm Edition 5 + 1 A.P.

 

Von der Grandezza des Lapidaren

Ein verlassener Spielplatz im menschenleeren Innenhof eines Neubaus, das Gewirr aus Wegen und Rampen einer Verladezone, ein für die Datenübertragung umgerüstetes ehemaliges Silogebäude in einer Vorstadtgegend, das architektonisch fragmentierte Areal einer Tankstelle, der Schlund einer Unterführung in einem dicht und hoch bebauten Gebiet, ein Gefüge aus gesichtslosen Gebäuden und Anbauten samt parkenden Autos: Fotografien dieser architektonischen Szenen spannte Matthias Klos 2019 zu einem Werk zusammen. Ohne Titel ... ist jedoch keine abgeschlossene Werkgruppe, sondern eine potenziell erweiterbare Reihe, was die Frage aufwirft, worin sich die sechs einzelnen Aufnahmen begegnen und was sie als Reihe zusammenhält.

Gemeinsam ist den Bildern, neben den technischen Übereinstimmungen vor allem der Charakter der Orte, an denen der Auslöser betätigt wurde. Es handelt sich um bebauten und besiedelten bzw. sozial wie ökonomisch bedingt frequentierten Raum, der nur fallweise und dann nur an den Rändern oder in dafür vorgesehenen Zonen Vegetation zulässt. Zudem ist es öffentlicher oder öffentlich zugänglicher Raum, der von einem Standpunkt fotografiert wurde, der dem einer Passantin oder eines Passanten entspricht. Und schließlich sind es keine Hauptschauplätze die Matthias Klos fotografisch festhält: keine identifizierbare und identitätsstiftende Architektur, keine wichtige Straßenkreuzung, kein zentraler Verkehrsknotenpunkt, generell keine Schauseiten, keine Räume mit „Gesicht". Stattdessen zeigt er ein Gefüge aus gebauten Gemeinplätzen, vage einzuordnen in die mitteleuropäische Formen- und Materialsprache der vergangenen fünfzig Jahren, dazu infrastrukturell munitionierte Zwischenzonen, die für das möglichst friktionsfreie und effiziente Benutzen durch verschiedene Interessensgruppen urbar gemacht wurden: Parkplätze, Rangierzonen, Unterführungen, Zufahrten, Rampen und Gehsteige als jene Bühnen, auf denen in einem urbanen Setting öffentlich sichtbar agiert wird. Die Fotografien bilden die B-Seite des Urbanen ab und fordern ob des Mangels an offensichtlich Bildwürdigem einen zweiten Blick ein. Anstatt am Vielgesehenen vorbeizugleiten verhakt sich dieser gewissermaßen im vermeintlichen Widerspruch zwischen Banalem und Monumentalem.

Der Charakter der Fotografien erschöpft sich jedoch keineswegs in einer Dokumentation des Lapidaren und des damit einhergehenden dystopischen Moments. Die Schnittmenge dieser Aufnahmen liegt nicht in einem moralischen Urteil über städteplanerische Schwächen oder architektonische Unzulänglichkeiten, stellt kein Rufzeichen neben eine gebaute Skurrilität und keinen ironischen Kommentar neben eine gewachsene urbane Realität. Vielmehr wirft Matthias Klos einen empathischen, nahezu zärtlichen Blick auf diese vordergründig nicht unbedingt relevanten Räume. Ein funktional-belangloses Wohnhaus erstrahlt durch seinen fotografischen Blick in einer gewissen Grandezza, der Rückseite einer Tankstelle misst er das Potenzial filmischer Suspense bei, die arretierten Spielgeräte behaupten sich in kompositorischer Notwendigkeit. Doch darüber hinaus bewirkt der Mangel an einer dominanten Architekturerzählung, dass der Fokus auf den architektonischen Raum, das heißt das urbane Gefüge gelegt wird. Denn die Unbefriedigtheit angesichts der vordergründig nebensächlichen und beiläufigen Räume dient als Triebfeder dafür, in den Fotografien nach jenem Element zu suchen, das den Künstler von der Signifikanz des Ortes und des Zeitpunkts überzeugte. Zu finden ist es in Spuren und Relikten sowie Anzeichen und Versprechungen menschlicher Aktivitäten. Eine temporäre Topfpflanze am Fensterbrett hier, eine bewegungslose Wippe da, ein Lieferant im Begriff das Fahrzeug zu besteigen hier oder eine verheißungsvolle Unterführung dort erweisen sich als Ingredienzien für eine spezifische, allen sechs Bildräumen gemeine Bühnenhaftigkeit, die den Status des urbanen Raumes als Handlungs- und Verhandlungsraum unterstreichen. Unterschiedlichste private und öffentliche Interessen, ökonomische und kulturelle Begierden, individuelle Wünsche und gesellschaftliche Erwartungen, sowie ästhetische und funktionale Parameter bilden sich im architektonischen Raum aus und müssen permanent verhandelt werden. Der architektonische Raum bringt dabei keine gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck, vielmehr konstituiert sich die Gesellschaft in ihm. Die gebaute Stadt ist demnach kein Spiegel, in dem sich die sozialen Bezüge und Prozesse abbilden, und auch keine passive und neutrale Hülle, in denen das soziale Leben stattfindet, sondern Architektur und Gesellschaft bedingen und durchdringen einander. In den Fotografien der Werkreihe Ohne Titel ... manifestiert sich der urbane Raum als ein Organismus jenseits von visueller Identitätssuche; er offenbart sich in der Verschränkung von Architektur und Gesellschaft als performativ-prozessualer Handlungs- und Möglichkeitsraum.

© Verena Gamper, 2019